„Agilität ist für uns Deutsche schwierig“

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Inflation, Zinswende, Baukostensteigerungen – die Immobilienwirtschaft sieht sich mit veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert. Wie wirkt sich das auf die digitale Transformation aus?

Richard Gerritsen: Ich sehe Parallelen zur Finanzkrise: Auf den Moment des Erschreckens folgt eine kurze Periode, in der erst einmal nicht viel gemacht wird. Wir sind jetzt am Ende dieser Evaluierungsphase. Ich bin davon überzeugt, dass für Technologie und Innovation nun eine sehr starke Phase beginnt. Das hat mit drei verschiedenen Themen zu tun.

Erstens: Immobilienunternehmen müssen jetzt mehr als früher auf die Kostenseite schauen. Das heißt, dass sie effizienter und effektiver werden müssen, um ihre Wettbewerbsposition zu halten oder zu verbessern. Das erfordert Investitionen in Innovation und Technologie, um mit weniger Leuten dasselbe oder mehr zu schaffen.

Das ist aber eigentlich nur das drittwichtigste Thema, obwohl es mittlerweile technisch möglich ist, Prozesse vollständig zu automatisieren, die bisher hauptsächlich mit erheblichen manuellen Eingriffen durchgeführt wurden.

Wichtiger sind die beiden folgenden Themen: In der aktuellen Phase mit Inflation, Kostensteigerungen etc. gibt es mehr und höhere Risiken. Das kann auf Mieterebene sein, bei CapEx oder Bewertungen. Daraus resultiert ein signifikant höherer Bedarf, Risiken zu verstehen und zu mitigieren. In diesem Bereich wird es einen deutlichen Investitionspush geben.

Das wohl wichtigste Thema ist das dritte: In der Breite des Marktes gab es eine strukturelle Änderung bei der Nutzung von Räumen und Flächen. Beim Büro ist es offensichtlich: Viele arbeiten gerade mehr von zu Hause. Also braucht Yardi weniger Quadratmeter, um alle Kolleg:innen im Büro zu haben und sie in die Position zu versetzen, produktiv zu sein. Das sehen wir besonders deutlich in den USA, aber auch in Europa sind wir weit von der vorherigen Auslastung entfernt. Am Ende wird es andere Businessmodelle für alle Eigentümer von Büroflächen geben. Das wird nicht alles zu Co-Working, aber wir sehen schon heute am Markt, dass traditionelle Eigentümer von Büros Operators aufbauen, gründen oder kaufen, um eine andere Weise von Vermietung und auch ganz andere Dienstleistungen anzubieten. Dadurch wird sich auch ein neuer Bedarf für Technologie ergeben.

Es geht ja nicht nur darum, dass sieben- oder zehnjährige Mietverträge nun auf zwölf Monate zusammenschrumpfen. Es muss etwa auch das Besuchermanagement neu aufgesetzt werden. Der Endnutzer muss in die Lage versetzt werden, vieles über sein Smartphone zu regeln. Aus all diesen Aspekten wird ein enormer Bedarf an Technologie entstehen. Interessanterweise führt das zu weniger Standardisierung – die Produkte bewegen sich immer weiter in Richtung Mixed Use und individualisieren sich somit.

Welche neuen technologischen Entwicklungen werden Ihrer Meinung nach für die Immobilienwelt relevant? Bei welchen Neuerungen sind Sie skeptisch und warum?

RG: Eine generelle Antwort dazu: Vieles Notwendige ist schon da, wird aber in der deutschen Immobilienwirtschaft noch nicht konsequent eingesetzt. In anderen Ländern sieht das anders aus, etwa in Italien oder Skandinavien. Wir schreiben das Jahr 2023, aber eine Eingangsrechnung wird noch irgendwo als PDF abgelegt, dann versuchen wir die Informationen daraus zu digitalisieren, um dann manuell zu buchen. In den besagten Ländern geht das mit „Straight-through Proceessing“ (STP); sehr oft ohne menschliche Intervention. Fertig! Wenn Immobilienunternehmen doch Kosteneinsparungen suchen, werden sie so etwas adaptieren müssen.

Das Thema Dunkelverarbeitung also: Einzelne Akteure machen es auch in Deutschland bereits. Aber woran liegt es, dass wir strukturell nicht so weit sind wie andere Länder?

RG: Das ist nicht nur ein deutsches, sondern meiner Meinung nach ein westeuropäisches Phänomen – und nicht nur auf die Immobilienwirtschaft beschränkt. Veränderungen sind für uns oft ein Synonym für Kontrollverlust. Ich glaube aber, dass wir jetzt in einer Situation sind, in der man „muss“. Das ist analog zum Thema ESG zu sehen: Jeder will grün sein, aber es ändert sich jetzt nur, weil man eben muss. In Italien war es sehr einfach: Da hat die Regierung einfach gesagt, dass ab einem bestimmten Stichtag das gesamte Invoicing digital sein muss. Punkt. Und das war es. Wir in Westeuropa sind noch nicht so weit, es freiwillig zu tun. Und es ist ja auch schwierig, so etwas freiwillig zu tun, denn eine individuelle Entscheidung läuft ins Leere, wenn alle anderen Stakeholder nicht mitziehen.

Das zweite Problem, das ich sehe, ist Kommunikation. Wo es vor 20 Jahren vielleicht um Daten auf Objektebene ging, geht es heute um Daten auf Mieterebene, müsste aber eigentlich schon um Daten auf Endnutzerebene gehen. Denn die ist die Basis für neue Immobilienprodukte und -dienstleistungen. Yardi ist dem Eigentümer als Mieter wichtig, aber warum mietet Yardi? Wir wollen eine Umgebung bieten, in der die Kolleg:innen gern zusammenkommen, happy sind. Wie der Bedarf genau aussieht, sollte also auch den Eigentümer und Operator interessieren. Es wird folglich viel mehr Daten auf Endnutzerebene geben.

Wir kommen also immer näher ans eigene Objekt, werden dabei immer individueller: Führt das zu einem exponentiellen Wachstum der relevanten Datenpunkte?

RG: Ja, ein wichtiges Stichwort: relevante Datenpunkte. Bis heute wurde es so gemacht: Wir haben erst mal versucht zu entscheiden, was relevant ist. Und dann haben wir das gesammelt, um die Basis für Managemententscheidungen aufzubauen. Das wird sich jetzt umdrehen: Zuerst kommen die Daten, ob vermeintlich relevant oder nicht. Große Rechenpower ermöglicht die Analyse von Korrelationen, die selbst ein Immobilienprofi vielleicht gar nicht direkt sieht. Die Definition von „relevanten Datenpunkten“ ist also eine andere.

Es ist gute Tradition, dass wir diese Frage zum Abschluss stellen: Für welches Problem in Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation oder auch im Privatleben hätten Sie in einer idealen Welt gern eine Lösung?

RG: Mein Sohn ist jetzt 19 und absolviert ein Studium im Tech-Bereich. Manchmal besprechen wir, was „the next big thing“ sein könnte. Und er sagt: „Oh Mann, bitte nicht noch eine App!“ Und ich finde das interessant. Ich habe diverse Apps, die ich gern nutze. Aber ich fange an ihn zu verstehen: Man hat eine neue Küche – und eine neue App dazu. Eine neue Lampe? Eine weitere App. Und so weiter und so fort. Ich denke, dass der Bedarf bei Privatpersonen wie bei Unternehmen steigen wird, Apps zu haben, die viel können, eine „Umbrella-Technologie“. Das könnte auch so etwas wie Alexa oder Siri sein. Warum muss ich alles mit zwei Daumen machen, wenn ich auch einfach sprechen kann?

Vielen Dank für das Gespräch!

Kurzvita
Richard Gerritsen ist seit mehr als 25 Jahren in leitenden Positionen im Bereich Finanzen und Vertrieb bei verschiedenen niederländischen und US-amerikanischen Technologieunternehmen tätig. Seit seinem Wechsel zu Yardi im Jahr 2005 ist er als Senior Director für Business Development und Vertrieb im europäischen Raum verantwortlich und hat dazu beigetragen, dass die Europa Niederlassungen von Yardi immer stärker wachsen konnten.


Quelle: Interview: „Agilität ist für uns Deutsche schwierig“ – EY Real Estate/ZIA Digitalisierungsstudie 2023 / S.28-30